Fragmente eines unendlichen Gedächtnisses
übersetzt von Heinz Jatho Verlag Diaphanes, Juli 2018 "Früher passierte es uns, dass wir die Strophen von Gedichten, historische Tatsachen, theoretische Sätze, lateinische Wörter usw. vergaßen, Dinge, die man uns in der Schule lernen ließ, weil frühere Generationen sie für wesentlich gehalten hatten – aber auch Dinge, die wir aus Spaß, aus eigener Neigung gelernt hatten, die aber trotzdem aus unserem Geist zu entweichen drohten, wenn wir uns nicht anstrengten, sie festzuhalten. Unser Gedächtnis für äußere Tatsachen schien verwundbar und von unserem Willen abhängig, unser persönliches Gedächtnis dagegen hatte etwas von einer Festung. Zuweilen wusste man nicht mehr, wer 1952 Ratspräsident oder 1970 Fußball-Weltmeister gewesen war, aber man konnte sich sagen, dass es zumindest etwas gab, das man nie vergaß oder das man, es sei denn durch einen tragischen Unfall, niemals so vergessen würde wie alles Übrige: unser eigenes Leben. Jetzt, da wir mit dem Internet über ein gigantisches mnemonisches Hilfsmittel verfügen, das fast allen Lücken unseres Tatsachengedächtnisses abzuhelfen vermag, scheint es, als sei durch einen neuen Kontrast unser persönliches Gedächtnis auf einmal von einer beunruhigenden Ungenauigkeit befallen. Mein Leben ist, unsere Leben sind nicht überprüfbar, obwohl vermittelt durch Google sich immer mehr Dinge nachprüfen lassen, die wir früher für unsere Erinnerung definitiv verloren glaubten. Wenn ich mir die Frage nach dem Verlauf der Schlacht von Leuktra stelle, antwortet mir das Internet; stelle ich mir aber die Frage nach einem Moment meiner Vergangenheit, antwortet es nicht. Ich habe davon geträumt, wie wir eines Tages im Internet die Spuren noch der bedeutungslosesten Ereignisse unserer Existenz finden würden, jene, die keine Aussicht haben, von irgendwem erfasst zu werden, so dass jegliches Geschehen automatisch registriert würde und das Internet nur das Medium wäre, welches zu diesem spontanen Gedächtnis des Seins Zugang verschafft. Wenn das möglich wäre, hätte man das Gefühl, in eine noch nie dagewesene Dimension einzutreten. Dass es unmöglich ist, erzeugt gleichwohl eine gewisse Fremdheit, die vielleicht nicht weniger gewaltig ist. Was uns am tiefsten angeht, gehört von nun an zu den ungewissesten Dingen überhaupt – den Dingen, die am wenigsten einer vergewissernden Überprüfung zugänglich sind. Die Grenzen unserer Identität verschwimmen, während so viele Objekte klare, fest gegründete Biographien erobern. Wir haben uns nicht geändert, die Dinge um uns herum aber sehr wohl, und wir selbst sind in die Kategorie der brüchigen Wesen, in eine Art ontologischer Zone zweiter Klasse abgesunken, wie ein altes Viertel einer expandierenden Stadt, das sich zunehmend verliert inmitten immer zahlreicherer, immer modernerer, immer soliderer Bauten, die auf uns herabsehen." |